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TitelCorona und die neue Lernwelt
Publication TypeMagazine Article
Year of Publication2022
AuthorsKerres, M
MagazineBundeszentrale für politische Bildung (Werkstatt)
Abstract

Creative Commons License

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-SA 4.0 - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International" veröffentlicht.

URLhttps://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/345913/der-einfluss-der-pandemie-auf-die-deutsche-hochschullehre-zwei-perspektiven
Vollständiger Text

Corona und die neue Lernwelt

Hat die Zeit des Distanzlernens in den Hochschulen wirklich etwas verändert? Der Mediendidaktiker Michael Kerres glaubt, dass Gedankenprozesse zwar angestoßen wurden, darüber hinaus jedoch noch viel zu tun ist.

Gastbeitrag von Michael Kerres

Der Titel nimmt etwas vorweg, das ich im Folgenden problematisieren möchte. Hat Corona tatsächlich eine neue Lernwelt in die Hochschule gebracht? Hat sich das Lehren und Lernen bereits so grundlegend verändert, dass manche von der "neuen Normalität" der Hochschullehre sprechen? Eines Tages, wenn die Pandemie tatsächlich überwunden ist, werden wir die Masken ablegen, werden wir den Abstand in Gesprächen wieder unbekümmert verringern und die AHA-Regeln vergessen. Warum sollten wir nach der Pandemie nicht auch zu unseren alten Gewohnheiten in der Hochschullehre zurückkehren und unseren eingeübten Praktiken des Unterrichtens in Räumlichkeiten der Hochschule nachgehen? So lange vermisst, immer wieder verschoben: Der gut vorbereitete Vortrag im gefüllten Hörsaal, das intensive Gespräch im Seminarraum und das akribische Experimentieren im Labor.

In der internationalen Forschung wird von Remote Emergency Teaching gesprochen, um deutlich zu machen, dass die Lehre unter Corona eine Notfallsituation darstellte: Es ging darum, unter Nutzung der digitalen Medien Distanzen zu überbrücken und einen irgendwie gearteten Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden aufrecht zu erhalten. Für die Öffentlichkeit in Deutschland ist dabei deutlich geworden, wie wenig das Bildungswesen auf digitale Technik setzt und wie wenig auch beträchtliche Geldsummen, die – für den Schulsektor – kurzfristig bereitgestellt wurden, daran ändern konnten. Der Zeitdruck machte es notwendig, vorliegende Konzepte der Lehrens auf die digitale Umgebung zu übertragen. Das ging in manchen Fällen mit Frustration der Beteiligten einher, weil deutlich wurde, dass die bisherigen Konzepte sich nicht gut medienvermittelt umsetzen ließen. In anderen Fällen gelang die Umsetzung, und die Erfahrung wurde deutlich positiver bewertet.

Mittlerweile liegen eine Reihe von Analysen und Auswertungen von einzelnen Hochschulen sowie hochschulübergreifende, teilweise auch ländervergleichende Studien vor. Sie zeigen, dass an Hochschulen (mehr noch als in der Primar- und Sekundarstufe) vielfach Lösungen implementiert werden konnten, die den Lernprozess unterstützen und zum Studienerfolg beitrugen. Als schwierig erwies sich demnach vor allem das rechtskonforme Prüfen. Solche Untersuchungen müssen oberflächlich bleiben, da sie die psychischen, kulturellen und gesellschaftlichen Implikationen für das Erleben der Studierendengeneration nicht annähernd erfassen. Denn die Studierenden befanden sich in einer Notfallsituation, in der sie vereinzelt, in ihrer Identitätsentwicklung eingeschränkt, kaum am gesellschaftlichen Leben teilhaben konnten. Die Effekte der Pandemie für Studierende können nicht auf den Einsatz digitaler Medien in der Lehre reduziert werden, wie in einem Experiment, in dem eine Variable geändert wird und der Effekt dieser Variable untersucht werden könnte. Insofern bleiben viele Effekte der Pandemie im Dunkeln.

Was heißt das für die Zeit nach Covid-19? Letztlich bleibt weitgehend offen, was nach der Pandemie passiert. Möglich erscheint gleichermaßen, dass die Lehrenden an Hochschulen zu einem "tradierten" Muster zurückkehren. Möglich erscheint auch, dass Hochschullehrende und Studierende sich dafür einsetzen, dass über die Entwicklung von Lehre weiter nachgedacht wird und die Erfahrungen von Corona aktiv in einem Prozess der Studienreform aufgegriffen werden. Sie wollen bestimmte Vorteile des Digitalen nicht mehr missen und fordern flexiblere Lösungen in der Umsetzung der Lehre.

Die Hochschullehre nach Corona kann sich ändern, aber dies ist als aktiver Gestaltungsprozess zu verstehen, der nicht nur die einzelne Lehrperson betrifft, sondern ein ganzes Kollegium mit den Studierenden. Es geht bei der Digitalisierung nicht einfach darum, dass der bestehende Unterricht nun auch über digitale Medien bereitgestellt wird. Wichtiger als die Forderung nach mehr Digitaltechnik ist die Notwendigkeit, didaktische Innovationen zu erarbeiten, mit denen z.B. eine das aktive Lernen intensiviert, stärkere kooperative Lernformen oder eine stärkere Vernetzung mit externen und internationalen Partnern möglich werden. Diese Entwicklungen kann die einzelne Lehrkraft nicht alleine anstoßen. Hier bedarf es der Verständigung und eines gemeinsamen Veränderungsprozesses der handelnden Akteure in der Hochschule.

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