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Startseite ›DER SPIEGEL veröffentlicht am 18.11.2020 (online) ein Interview mit Michael Kerres. Dabei macht er sich stark für pragmatische Lösungen in den Schulen, bei denen auch ein Wechselmodell erprobt wird:
Gerade um einen erneuten Lockdown der Schulen zu verhindern, sind jetzt flexible Lösungen in den Schulen zu entwickeln: Modelle, bei denen Klassen geteilt werden und feste Gruppen von Lernenden an bestimmten Tagen die Schule besuchen und sich dabei abwechseln. Dies ist eine völlig andere Situation als das schwierige Homeschooling im Lockdown, bei dem die Schüler/innen über mehrere Monate zuhause lernen sollten - und viele Kinder und Jugendliche tatsächlich "den Faden" verloren hatten. Statt den Präsenzunterricht "gegen" digitale Lernformen zu setzen, sind kluge Kombinationen in den Schulen zu finden. Dafür brauchen Schulen die Freiheit, ihren Weg zu finden.
Durch das Wechselmodell kann die Betreuung aufrecht erhalten bleiben - im übrigen auch bei einer nur geringen oder mittelmässigen digitalen Ausstattung in Schulen oder zuhause.
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Der Präsenzunterricht wird verherrlicht
Michael Kerres, 60, leitet das »Learning Lab« an der Universität Duisburg-Essen. Der Mediendidaktiker fordert pragmatische Lösungen für den Schulunterricht in Corona-Zeiten.
SPIEGEL: Steigende Infektionszahlen könnten in diesem Winter wieder zu Schulschließungen führen – regional oder womöglich auch bundesweit. Ein Glück, dass Kultusministerien und Schulen jetzt wissen, was kommt, und sich auf Fernunterricht vorbereiten konnten, oder?
Kerres: Ich fürchte, das ist eine Illusion. Selbst dort, wo inzwischen technische Voraussetzungen geschaffen wurden, haben sich keine Routinen in der Didaktik eingespielt. In den letzten Jahren ist so viel versäumt worden, das lässt sich nicht in ein paar Monaten aufholen.
SPIEGEL: Was wurde verpasst?
Kerres: Der Schulbetrieb ist vielfach noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen. Das ist auch kaum möglich, weil dessen Dynamik im Gegensatz zur Schulpolitik in Deutschland steht. Bei uns soll in jedem Bundesland für alle Schulen möglichst dasselbe gelten. Dazu kommt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber moderner Technik in der Bildung, die in keinem anderen Land so ausgeprägt ist. Wir Deutschen lieben Technik im Auto, in der Küche, im Rasenmäher – aber bitte nicht in der Schule. Wegen dieser Haltung sind deutsche Schulen international weit hinten, was Ausstattung und digitale Kompetenzen betrifft.
SPIEGEL: Warum ist das so?
Kerres: Bei uns ist die Vorstellung tief verwurzelt, dass Lernen etwas ist, das vorwiegend in der persönlichen Begegnung stattfindet und durch Technologien eher gestört wird. Der Präsenzunterricht wird verherrlicht, das Digitale oft grundlegend infrage gestellt. Das ist in Zeiten wie diesen natürlich keine gute Ausgangsposition.
SPIEGEL: Droht also noch einmal dasselbe Chaos wie im Frühjahr, wenn die persönliche Begegnung mit den Lehrerinnen und Lehrern wegfällt?
Kerres: Nicht unbedingt. Einzelne Einrichtungen können gute Lösungen finden, wenn sie Spielraum zum Ausprobieren haben. Viele tun das ja auch trotz der schwierigen Bedingungen.
SPIEGEL: Haben Sie das selbst erlebt?
Kerres: Ja, oft. Wir begleiten in mehreren Städten in NRW Schulen und Netzwerke von Schulen und unterstützen dort digitale Transformationsprozesse. Wir erleben zwei Welten: Auf der einen Seite die landespolitische Diskussion, wo oft erfolglos um die Einführung von Lösungen gestritten wird, und auf der anderen Seite Schulen, die diese Tools – in Absprache mit den Eltern – einfach nutzen.
SPIEGEL: Auf welche Werkzeuge sollten die Schulen setzen?
Kerres: Das wichtigste ist, dass Lehrpersonen mit ihren Schülerinnen und Schülern in Kontakt bleiben, dass sie Material verteilen und Rückmeldungen geben können. Es ist nicht primär entscheidend, ob das per Videokonferenz passiert oder per E-Mail, Messenger oder über eine Lernplattform.
SPIEGEL: Erzwingt die Corona-Krise jetzt lange versäumte Reformen?
Kerres: So einfach ist es leider nicht. Wir sind in einer Notsituation mit entsprechender Dynamik. Veränderungen brauchen aber Ruhe, Austausch, Vertrauen, Gespräche – das alles findet gegenwärtig nur unter erschwerten Bedingungen statt. Eine echte Strategie lässt sich so kaum entwickeln und umsetzen. Umso mehr sollten wir pragmatisch sein: Wenn eine kleinere Gruppe zum Beispiele montags in die Schule kommt und dann erst wieder am Mittwoch, wie können wir die auch am Dienstag betreuen? Solche Lösungen werden in den nächsten Monaten vielleicht gebraucht.
SPIEGEL: Aber nach der Krise werden dann sicher alle umso motivierter in die digitale Zukunft starten?
Kerres: Da bin ich mit gar nicht so sicher. Vielleicht sagen auch Manche, das waren furchtbare Zeiten, jetzt gehen wir endlich zurück zum Altbewährten. Ich hoffe natürlich, dass sich Lehren und Lernen weiter entwickeln. Aber ich halte beides für möglich. Rückschritt und Aufbruch.